Den Turbo zuschalten
Die Digitalisierung ist in Franchisesystemen nicht erst seit COVID-19 ein großes Thema, aber die Pandemie hat ihr einen großen Schub gegeben. Statt möglicher Lösungen waren plötzlich dringend notwendige gefordert, was so manchen Widerstand zwangsläufig auflöste. Franchisesysteme verfolgen je nach digitalem Reifegrad ganz unterschiedliche Ziele, die sich gliedern lassen in drei Ebenen, an denen Initiativen zur Digitalisierung typischerweise ansetzen: Prozesse, Kunden und Geschäftsmodell. Die meisten Unternehmen beginnen mit der Prozessebene, auf der sich die Effizienz der Geschäftsprozesse beim Partner oder in der Zentrale optimieren lässt, z. B. durch den Einsatz integrierter Warenwirtschafts- und Kundenmanagementsysteme, mobiler Lernplattformen, digitalen Qualitätsmanagements oder Kommunikationsplattformen wie Social Intranet. Als „Nebenprodukt“ liefert die Prozessebene vielfach auswertbare Daten, die für die beiden weiteren Ebenen von fundamentaler Bedeutung sind.
Auf der Kundenebene geht es um die Optimierung der Neukundengewinnung und der Bestandskundenbindung. Hierzu zählen insbesondere Aktivitäten im Onlinemarketing (Suchmaschinenoptimierung und -marketing, Social Media) und integriertes Kundenbindungsmanagement, bei denen möglichst viele Kundendaten so aggregiert werden, dass Mehrwerte z. B. durch individualisierte Angebote geschaffen werden.
Die dritte Ebene verlässt die operative Ebene und hinterfragt die Zukunftsfähigkeit des gesamten Geschäftsmodells, mit dem Ziel der Neuausrichtung auf sich ändernde Kundenbedürfnisse und Marktgegebenheiten – typischerweise durch neue (digitale) Produkte, Services und Vertriebskanäle oder sogar durch Weiterentwicklung zur digitalen Plattform. Zwei Unternehmen, in denen man sich gerade genau dieser dritten Ebene widmet, sind Fressnapf und Die Kaffeemeister.
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Perspektive: ein digitaler Marktplatz rund ums Tier
In der Fressnapf-Gruppe sind digitale Grundlagen längst gelegt – mit effizienten Prozessen für die operativen Abläufe im stationären Handel und performanten Marketingprozessen, um das Onlinepotenzial zu heben. Ziel ist es, Kunden, die längst online und offline bei Fressnapf kaufen, ein rundes Omni-Channel- Erlebnis zu bieten, um sich klar gegen Amazon & Co. zu positionieren. Für Fressnapf bedeutet Digitalisierung deshalb vor allem, das eigene Geschäftsmodell weiterzuentwickeln: weg vom „Palettendrehen“, hin zum „360 Grad Problemlöser rund ums Tier“ und zu einer Daten getriebenen, digitalen Plattform mit Märkten vor Ort. Dazu bietet Fressnapf neben dem Onlineshop auch Ratgebervideos, eine individuelle Online-Tierarztberatung und aktive Kunden-Communities, in denen Tierfreunde Hilfe und Anregungen bekommen. Diese Onlinekompetenz wird flankiert vom Rundum-Service in den Märkten, mit fachkundiger Beratung, angegliederten Tierarztpraxen und Hundefrisören. „Als langjährig stationär etabliertes Unternehmen bedeuten diese Schritte für uns enormes Umdenken und einen Kulturwandel. Dabei begleiten wir unsere Partner aktiv durch Information, Einbindung und Training. Nur wenn wir sie von unserer Omni-Channel-Strategie überzeugen, können sie sie vor Ort optimal mit Leben füllen. Die Pandemie beschleunigt die Onlineaffinität der Kunden und motiviert unsere Partner noch mehr, diesen Weg konsequent mit uns zu gehen!“, sagt Jochen Huppert, Leiter des Franchisebereichs von Fressnapf.
DIGITALISIERUNGSINITIATIVEN UND IHRE ZIELE
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Digitales Franchise-Start-up mit analogem Kaffeeservice
Die Soennecken e. G. mit mehr als 500 Genossenschaftsmitgliedern erlebt die Digitalisierung aus einer anderen Perspektive: Das Kerngeschäft, der Vertrieb von Büroartikeln, wird wegdigitalisiert und kann aufgrund des veränderten Onlinekaufverhaltens zu Amazon & Co. abwandern. Auf solche Entwicklungen wirkt Corona wie ein Turbo. Die Geschäftsführung hat deshalb vor zwei Jahren ein Projekt ins Leben gerufen, das auf den Kernkompetenzen der Soennecken e. G. aufbaut und nicht wegdigitalisiert werden kann: Kaffeeservice für Büros. Diesmal allerdings soll der Vertrieb nicht über die Genossenschaftsmitglieder erfolgen, sondern über ein Franchisesystem, das auf den Stärken der Genossenschaft aufbaut und ergänzend die Stärken des Franchising nutzt. So läuft das gesamte Geschäft unter der einheitlichen Marke „Die Kaffeemeister“, das Marketing erfolgt zentral, der Verbrauch der Kunden wird automatisiert über ein zentrales Portal gemessen, Ware bei Bedarf nachgeliefert und fakturiert. Auch die Partnerprozesse wurden weitgehend digitalisiert. Die Vermittlung des umfangreichen Knowhows erfolgt beispielsweise als Blended Learning mit Videos, Quiz und Lernfortschrittskontrollen über eine mobile Lernplattform, eine App in der CI von Die Kaffeemeister für Smartphones und Tablets der Teilnehmer. Sie dient auch der Kommunikation und der Übermittlung von News sowie dem Erfahrungsaustausch. Eindeutige Benutzerrechte erlauben den mobilen Zugriff auf individuell relevante Angebote.
Die ursprünglich geplante Roadshow für den Launch von Die Kaffeemeister wurde wegen Corona in die virtuelle Welt verlegt – sehr anders, sehr effizient und auch sehr erfolgreich! Im Januar startete das Onboarding der ersten Partner. „Wir hoffen sehr, dass wir im ersten Quartal auch Präsenztrainings anbieten können, um unsere Leidenschaft für Die Kaffeemeister real transportieren zu können. Falls das nicht möglich sein sollte, sind wir auch auf ein komplett virtuelles Onboarding vorbereitet!“, so Kai Holtkamp, Bereichsleiter Marketing & Geschäftsentwicklung der Soennecken e. G.
Sylvia Steenken
Die Gründerin der Unternehmensberatung FranchiseForYou und assoziierte Expertin im Deutschen Franchiseverband ist Vorsitzende des Digitanks.